Zwischen Retro und Rhetorik

Zwischen Retro und Rhetorik: Syrizas Unglaubwürdigkeit
KOMMENTAR DER ANDEREN | WOLFGANG MÜLLER-FUNK
3. Juli 2015, 17:15

Der revolutionäre Habitus von Syriza verdeckt in Wahrheit nur die wirtschaftspolitische Ratlosigkeit der Partei. Befremdlich ist darüber hinaus ihr Nationalismus, der dem linken Projekt eines solidarischen Staates zuwiderläuft
Karl Marx hat einmal davon gesprochen, dass "alle weltgeschichtlichen Tatsachen" "sich sozusagen zweimal ereignen", "das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce". Zweifelsohne stehen die postmarxistischen Akteure von Syriza, die zusammen mit ihren europäischen Sympathisanten das Finanzkapital heroisch bekämpfen, in einem parodistischen Verhältnis zu jenem revolutionären Marxismus, auf den sie sich berufen, so als hätte der Zusammenbruch des Sozialismus 1989 nie stattgefunden.
Bekanntlich haben sich die Erfolge einer sozialistischen Ökonomie als enden wollend erwiesen, sodass selbst die verbliebenen kommunistischen Regime wie in China, Kuba und Vietnam mittlerweile auf den kapitalistischen Markt setzen. Die Ironie der Geschichte will es, dass die postkommunistischen Staaten in der EU jene "antikapitalistische" Regierung unterstützen, der kommunistische Melancholie nicht fremd ist. Der Synaspismos Rizospastikis Aristerás, die Koalition der radikalen Linken, ist eine Melange aus alten Kommunisten, Trotzkisten, Links-Grünen, neokeynesianischen Ökonomen und Linkssozialisten, die eines eint: ihr Unbehagen am globalen Kapitalismus.
Dieser bunten Mischung entspricht auch das Programm: direkte Demokratie, Austritt aus der Nato, Verstaatlichung der Banken, Freundschaft mit Putin. Die ökonomische Krise hat diese Gauchisten kurzfristig nach oben gespült und zu einer linksradikalen Volkspartei gemacht – das hat es seit den großen Tagen der italienischen und französischen Kommunisten nach 1945 nicht mehr gegeben.
Die antikapitalistische Rhetorik und die positive Bezugnahme auf die eigenen revolutionären Traditionen verdecken eine Ratlosigkeit, die bis heute alle linken Bewegungen links von der Sozialdemokratie charakterisiert. Syriza und ihre europäischen Sympathisanten agieren nämlich innerhalb des kapitalistischen Rahmens. Es gibt keine dezidierte Programmatik einer trans- oder postkapitalistischen Gesellschaft und höchst vage Vorstellungen von neuen Formen gesellschaftlicher Aneignung und Partizipation.
Anders als es eine bestimmte Rhetorik suggeriert, ist der Kampf gegen die "Austeritätspolitik" keineswegs "links" oder "antikapitalistisch". Es mag unter bestimmten Umständen notwendig sein, wirtschaftliche Krisen mit staatlichen Interventionen zu bekämpfen. Was die Austeritätskritiker indes verschweigen, ist die Tatsache, dass der Überschuldungskapitalismus unserer Tage dem Finanzkapital erst seine ungeheure, demokratisch nicht legitimierte Macht verschafft hat.
Nicht nur in Griechenland, sondern in nahezu allen westlichen Ländern ist die Verschuldung von Staat und Gesellschaft binnen einer Generation enorm gestiegen. Unsozial an ihr ist z. B., dass nachfolgende Generationen die Rechnung zu bezahlen haben. Große Teile des Staatshaushaltes müssen darüber hinaus für den Schuldendienst aufgebracht werden, anstatt in wichtige Bereiche wie Umwelt, Sozialpolitik, Bildung und Kultur zu fließen. Hyperinflation und Staatsbankrott werden, wie der Fall Argentinien zeigt, die Ungleichheit zwischen Arm und Reich nicht verringern.
Problematisch an Syriza ist nicht, dass sie "links", sondern national ist – das zeigt sich in der Wahl eines rechtspopulistischen Regierungspartners ebenso wie in Tsipras' Männerfreundschaft mit dem neoimperialen Exkommunisten Putin. Wie der rechte ist auch der linke Populismus im Kern antieuropäisch und antiwestlich. Schuld an den eigenen Problemen sind – in der nationalen Sündenbocklogik – stets die anderen. Dieser Nationalismus erklärt, warum die griechische Regierung erst unter dem Druck der kapitalistischen Kreditgeber bereit war, über die Reduzierung der überzogenen Rüstungsausgaben nachzudenken. Der Widerspruch zwischen nationalistischem Maximalismus (nationale "Würde", philotimó) und der ebenso maximalistischen Einforderung europäischer Solidarität ist keine griechische Spezialität, aber lebensgefährlich für ein Projekt, das auf die Schaffung transnationaler Strukturen ausgerichtet ist.
Diese neue Linke ist von dem Glauben durchdrungen, dass die Sparpolitik die Hauptschuld an der griechischen Misere trägt. Diese wird wieder einmal zum Opfer ihrer guten Absichten – eine Erzählung, an der Syriza unermüdlich trägt. Diese wird wieder einmal zum Opfer ihrer guten Absichten – eine Erzählung, an der Syriza unermüdlich bastelt. Manche Akteure scheinen zu ahnen, dass ihre alternative Wirtschaftspolitik desaströser wäre als die Sparpolitik, die sie kompromisslos bekämpfen.
Links auf europäisch 
Griechenland ist pleite. Für einen Nationalstaat ist das ein Problem. Wenn Europa zu einem transnationalen Bundesstaat wird, dann stellt sich die Frage, ob es sich Regionen leisten kann, die niemals jenes "Wachstum" erreichen können (wie manche Zentralregionen), die aber für Europas kulturelle Befindlichkeit unverzichtbar sind. Das wäre ein Europa, das sozial und ökologischer und national abgerüsteter wäre als heute.
Linke Politik ist nur auf einer europäischen Ebene sinnvoll: ökonomische (Selbst-)Hilfe für die Marginalisierten, Demokratisierung der Wirtschaft, soziale und ökologische Transformationen des Marktes, positive Gestaltung einer irreversiblen Globalisierung, Kampf gegen eine Überschuldung, die nur jenen globalen Spielern dient, die mit Geld Geld machen.
Retro und Rhetorik schaffen auf Dauer keine Glaubwürdigkeit. Syriza, Podemos oder die Fünf Sterne dürften eine kurzfristige Episode bleiben. Nur eine glaubwürdige linke Politik, die nicht zu viel verspricht, kann den Siegeszug des rechtspopulistischen Neonationalismus aufhalten. (Wolfgang Müller-Funk, 3.7.2015)