Nivellierung nach unten.
Zur Kritik der neuen Lehrerausbildung
Von Wolfgang Müller-Funk
Nach sechs Jahren Bildungsdebatte ist es nun soweit. Entgegen der Äußerungen des Vizekanzlers im Fernsehen ist das Ende des Gymnasiums in Sichtweise gerückt. Durch die Hintertür versteht sich. Mit ihrer Einwilligung zur neuen Lehrerausbildung haben die Konservativen jedweder ambitionierter Ausbildung, wie sie einmal mit dem Gütesiegel „Gymnasium“ verbunden war, den Todesstoß versetzt. Vielleicht werden einige Schulen hinfort noch so heißen, aber die wesentlichste „Ressource“, fachlich kompetente Lehrer, wird ihnen nicht mehr zur Verfügung stehen. Dass ausgerechnet der Wissenschaftsminister, ein ausgewiesener Altphilologe, diesem „Kompromiss“, der das Ende eines ambitionierten Fachstudiums und damit des Fachunterrichts bedeutet, zugestimmt hat, ist nur schwer nachvollziehbar.
Die neue Lehrerausbildung sieht vor, dass Bewerber für die Lehrerlaufbahn fortan bestenfalls ein sechssemestriges Fachstudium an den Pädagogischen Hochschulen oder an den Universitäten und danach ein einjähriges Pädagogikstudium zu absolvieren brauchen. Über diverse Umwege kann jemand, der nur zwei Semester an einer Hochschule studiert hat, zukünftig an der Oberstufe unterrichten. Beinahe überflüssig zu sagen, dass diese markante Verkürzung der Studienzeit mit der Steigerung von didaktischen und verschulten Modulen und der Senkung von Standards einhergehen wird. Das Niveau der universitären Ausbildung wird infolge der strengen Rahmenvorgaben also drastisch nach unten gedrückt.
Eine engagierte linke Lehrerin hat es unlängst in einem Gespräch auf den Punkt gebracht: Früher wollte die Sozialdemokratie, dass die Arbeiterschaft die gleiche gute Bildung erhalten sollte wie das Bürgertum, heute soll das Bürgertum tendenziell jene der Unterschichten erhalten. Das ist das heimliche Credo der Bildungsdemokratie. Das hochtrabende Reformvokabular ist der Nebelwerfer, mit dessen Hilfe die „Reform“ durchgesetzt wird. Die neue Lehrerausbildung spricht eine deutliche und klare Sprache: Ein sechssemestriges Studium vermutlich ohne Erasmus- Auslandsaufenthalt und eingezwängt in pädagogisch dominierte Curricularsysteme anstelle eines bislang zumeist mehr als achtsemestriges fachliches Magisterstudium wird für die Ausbildung der kommenden Generationen von Maturanten für ausreichend befunden werden. Natürlich soll das Bildungssystem eines post-industriellen Landes wie Österreich auch ambitionierte Formen der Vermittlung kennen, aber deren Funktion muss sich allemal daran bemessen, ob sie hoch qualifizierte junge Menschen mit entsprechend breiten Kenntnissen hervorbringt. Es ist (nicht) erstaunlich, dass die einstigen Proponenten des Bildungsvolksbegehrens, denen doch die Bildung so sehr am Herzen liegt, diesen faulen Kompromiss nicht beeinsprucht haben. Die Nivellierung nach unten, die dieser „demokratischen Reform“ inhärent ist, könnte dazu führen, dass die schlechten PISA-Ergebnisse, die vornehmlich Elementarkenntnisse des Rechnens und Schreibens messen, sich nicht verbessern werden.
Wenn man die Bildungsdebatten der letzten Jahre Revue passieren lässt, dann ist eines unübersehbar: die Meinungsführerschaft und Allgegenwart von pädagogischem Expertentum. Dessen wissenschaftliche Expertise wurde zum symbolischen Füllstoff und zur Offenbarung der so renovierten Bildungsreform. Höchst selten kamen in diesen Debatten Fachwissenschaftler zu Wort, die seit Jahren an den Universitäten für die fachliche Qualifikation Verantwortung tragen. Diese Präferenz ist erstaunlich angesichts der Tatsache, dass die Pädagogik, diplomatisch formuliert, eine höchst „weiche“ Wissenschaft ist, eine nicht unproblematische Mischung von philosophischen und anthropologischen Versatzstücken, didaktischen Kulturtechniken, Sozialstatistik und gesellschaftspolitischen Leitbildern zur allgemeinen Verbesserung der Welt. Wie alle Kulturtechniken können auch die didaktischen von Nutzen sein: Kochbücher sind auch für den Profi unentbehrlich, gleichwohl gilt es an die Banalität zu erinnern, dass fundiertes Fachwissen ebenso eine Kernvoraussetzung für pädagogisches Agieren darstellt wie die eigene Neugierde und Bereitschaft, etwas zu lernen.
In dieser menschenfreundlichen Demokratie-Rhetorik, diesem rührseligen politischen Kitsch, den ich schon nicht mehr hören kann („ die gemeinsame Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen “), wird gerne unterschlagen, dass Lernen nicht nur lustig, spontan und spielerisch ist, sondern auch Training und Ausdauer bedarf. Es gibt Bereiche, in denen uns das plausibel erscheint, bei Schauspielern, Musikern oder auch bei Sportlern. Der im pädagogischen Newspeak so vehement angegriffene Frontalunterricht könnte sich als ebenso unvermeidliches Kernstück von Bildung erweisen wie das Erlernen sozialer Techniken wie Höflichkeit und Respekt gegenüber Mitschülern und Lehrern oder die Einübung von vermeintlich veralteten Mnemotechniken. Es kommt nur darauf an, wie man das macht. Jede Form von Bildung enthält letztendlich eine unaufhebbare Asymmetrie zwischen Lehrenden und Lernenden, eine gewisse Schieflage, die durch keinerlei Sandkastenspiele zu beseitigen ist.
Warum verträgt sich diese „Bildungsreform“ so gut mit der fortschreitenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche und einem gebetsmühlenhaft gewordenen Demokratismus? Weil sie, vielleicht unhinterfragt, etwas gemeinsam haben, nämlich das strukturelle Desinteresse an einer qualitativ anspruchsvollen allgemeinen und möglichst breiten Bildung der kommenden Generationen und eine hohe Zahl von verschiedenen schulischen Angeboten. Die Macht der Statistik kommt hinzu: Die steigende Zahl von Uni-Absolventinnen und Absolventen lassen sich bei internationalen Rankings als Erfolg verkaufen.
Die Kontrahenten der vollmundig betriebenen Reform, etwa die Gymnasiallehrer, hatten einen schweren Stand: Nicht ganz zu Unrecht wurde ihnen vorgehalten, dass es ihnen lediglich um die Wahrung ständischer Privilegien ginge. Daran ist, wenn man das rein gewerkschaftliche Agieren ihrer Vertreter betrachtet, etwas Wahres. Es lässt sich durchaus darüber streiten, ob ein Volksschullehrer wirklich weniger leistet als ein Gymnasiallehrer, eine Krankenschwester weniger als ein Arzt. Aber die Debatte über die Lehrerbesoldung ist eine unzulängliche Vermischung mit der Frage der Lehrerausbildung; ganz nebenbei bemerkt würde der Lehrerschaft in der Primarstufe ein höheres Maß an fachlichem Wissen, das verlässlich nur an den Universitäten zur Verfügung steht, bestimmt nicht schaden, selbst dann, wenn sie es niemals im Unterricht verwenden.
Die Macht der zünftigen Pädagogik, die ein Meisterdiskurs geworden ist, hat noch eine andere prekäre Seite; wie jeder, der in Schule oder Universität tätig ist, weiß, geht sie Hand in Hand mit einer rigiden Bürokratisierung, in der Pädagogisierung und „Ökonomisierung“ eine unheilvolle Allianz bilden. Die verkündeten „Reformziele“ bedürfen ausgeklügelter administrativer Maßnahmen, einer neuen Art von Bildungsingenieurskunst, die an den untergegangenen realen Sozialismus und seine Plan- und Kontroll-Manie erinnern: Vorschriften, Bewertungssysteme jedweder Art sowie rigide Kontrollen gehören mittlerweile zum digital betriebenen Alltag jedes und jeder Lehrenden. Die Pseudo-Ökonomie in diesen Bereichen gebiert bürokratische Monster, die zunehmend die Arbeitszeit der Lehrenden verschlucken. Sie dient nicht dem, was sie vorgibt durchzusetzen, eine vernünftige Nutzung der vorhandenen Ressourcen. Eine solche müsste darauf aus sein, dass möglichst viel Zeit für das Kernziel jedweden Bildungssystems, regelarmes und freies, aber intensives Lernen, zur Verfügung steht und dass sich Lehrende, Lernende und mitunter deren Eltern nicht andauernd mit irgendwelchen bürokratisch-pädagogischen Spielchen befassen müssen.
Wer all das nicht möchte, wird hinfort für seine Kinder tief in die eigene Tasche greifen müssen. Allgemeinbildung und kompetenter Fachunterricht wird hinfort nur mehr an einschlägigen Privatschulen zu bekommen sein. Ob das sehr sozial ist, darf dahingestellt bleiben.
(gekürzte Version erschien m Standard, Kommentar der Anderen vom 27.6. 2013)