Scheitern als Qualität (Presse, Spectrum vom 12.1. 2013

Scheitern als Qualität

11.01.2013 | 18:25 | Von Wolfgang Müller-Funk (Die Presse)

Opulent wie der „Mann ohne Eigenschaften“ gibt sich Norbert Christian Wolfs Sozioanalyse von Musils Roman. Dabei wird der Text, Bourdieu folgend, als soziales Kräftefeld durchmessen.

Muss man Robert Musil heutzutage noch gegen eine zünftige Literaturkritik verteidigen? Anscheinend provoziertsein unendlicher Roman noch immer beckmesserische Reaktionen. Seinerzeit haben einschlägige deutsche Verlage Auszüge aus seinem Opus magnum mit dem barschen merkantilen Kommentar zurückgeschickt, dass dieser Text nicht publizierbar sei. Noch in einem 2002 erschienenen Essay hat Marcel Reich-Ranicki, Lieblingsfeind vieler österreichischer Autoren und Literaturwissenschaftler, empfohlen, den „Mann ohne Eigenschaften“ in einer lesbaren, auf einige 100 Seiten zusammengestrichenen Version herauszubringen.

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Ich gestehe, mich hat sein Vorschlag eher amüsiert. Man würde gern wissen, was Reich-Ranicki zur „Klagenfurter Ausgabe“ (digitale kommentierte Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften) sagen würde, die dieses Grundproblem um eine weitere Dimension radikalisiert hat. Der Salzburger Germanist Norbert Christian Wolf, der eine auf 1216Seiten gekürzte Monografie, seine Habilitationsschrift, vorgelegt hat, kennt da keinen Spaß und spricht vom „Scheitern eines Großkritikers“, so, als ob Scheitern automatisch ein Malheur ist; der Fall Musil zeigt doch auf einenicht ganz untragische Weise, dass Scheitern eine Qualität bedeuten kann.

Viel eher als vor betagten Literaturkritikern muss man Musil vor seinen falschen Freunden schützen. Wolfs ernsthafte, sprachlich überzeugende Arbeit gehört zu den positiven Ausnahmeerscheinungen einer Musiliana, die weit abstoßender ist als der provokante Witz eines Reich-Ranicki mit seinem Körnchen Wahrheit. Warum das Werk Wolfs über Musil in einem Akt von Mimesis derart opulent geraten ist, hängt – neben einem bestimmten Duktus der Beflissenheit und einer gewissen Opulenz an Zitaten – auch mit der von ihm bevorzugten Methode zusammen, die Wolf als einen „weitgehend unerprobten textanalytischen Ansatz“ apostrophiert.

Die Rede ist von Pierre Bourdieus berühmtem, vor gut 20 Jahren erschienenem Buch „Die Regeln der Kunst“. In diesem bemerkenswerten Buch liest Bourdieu, übrigens gegen Sartre, Flauberts „Education sentimentale“ in einem konzis literatursoziologischen Sinn. Er nimmt den Roman zum Ausgangspunkt, um zu beschreiben, wie sich im Frankreich des 19. Jahrhunderts ein eigenständiges Feld der modernen Literatur herausgebildet hat. Bourdieus Ansatz ist unzählige Male für ähnliche Fragestellungen zur Anwendung gekommen. Von Unerprobtheit kann also keine Rede sein.

Was die Sache freilich verkompliziert, ist,dass „Der Mann ohne Eigenschaften“ alle möglichen Themen behandelt: die Welt der Politik, der Wissenschaft und der Ideologien,das symbolische Minenfeld der Geschlechter nach der Jahrhundertwende, die moderne Sinnkrise, die nationalen Konflikte zwischen den Völkerschaften der Monarchie. Die Welt der Literatur- und Kunstproduktion wird man bei Musil, anders als in Flauberts Roman, aber kaum finden. Die Figur eines Feuermaul macht noch keinen Literaturbetrieb. Zugespitzt formuliert: Besonders gut fügen sich Bourdieus Ansatz und die großen Themen des Musil'schen Werkes nicht zusammen.

 

Modellhafte Parallelaktion

Nach 200Seiten negativer Anthropologie wird im folgenden, über 800 Seiten langen Hauptteil der „Romantext“ als soziales „Kräftefeld“ durchmessen. Dabei ist das „Feld der Macht“, Bourdieu zufolge, ein Teilsystemder modernen Gesellschaft, bei Wolf in einem weiten Sinn gefasst. Wird hier doch die Analyse aller wichtigen Akteure des Romans vorgeführt, die mit der kulturellen Gesamtkonstellation des exemplarischen Jahres 1913 befasst sind, wie sie durch die modellhafte Parallelaktion beschrieben ist. In diesem „Feld der Macht“ finden sich daher nicht nur genuin politische Figuren wie der „Funktionär Tuzzi“, der General Stumm von Bordwehr, der deutsche Industrielle Arnheim oder „Ulrichs Inversion“ – als solches wird Graf Leinsdorf in Wolfs Buch bezeichnet – ein, sondern auch sämtliche Frauenfiguren des Romans und all die verwegenen und verlegenen Ideologen, die um die Parallelaktion versammelt werden.

Die Analyse des Prostituiertenmörders Moosbrugger, der auch zum „Feld der Macht“ zu gehören scheint, ist durchaus ausgefeilt und differenziert geraten, aber was dieser Prostituiertenmörder mit „Kapitalausstattung“ oder „Habitusbildung“ zu tun haben soll, bleibt mehr als vage. Dass sich Ulrichs viel beschworene „Eigenschaftslosigkeit“ durch Bourdieus Kategorien besser verstehen ließe als durch den Verweis auf Konstruktionen von Identität, lässt sich füglich bestreiten.

Im Hauptteil tritt an die Stelle einer gesellschaftlichen Betrachtungsweise oft der traditionell biografistische, mit Bourdieus Methodik unvereinbare Blick durch das Schlüsselloch ins Zentrum, etwa, wenn wieder einmal in einer Art von bewährtem Denkzwang die Hauptfiguren „entschlüsselt“und mit historischen Personen in Zusammenhang gebracht werden. Als ob es nicht interessanter wäre, was Rathenau von dem fiktiven Arnheim unterscheidet. Oder Ulrich von Musil. Oder Moosbrugger von dem Prostituiertenmörder Christian Voigt.

Zu den interessantesten und einprägsamsten Passagen des Buches zählen jene Abschnitte, in denen sich der Autor anthropologischen und poetologischen Fragestellungen zuwendet. Wolf neigt dazu, die Positionierungen Musils zu wiederholen und zu bekräftigen. Das gilt für seine Kritik an Balázs ebenso wie für die Geringschätzung Brochs, der aufgrund seiner Interessen für die Wertefrage recht vorschnell als konservativ abgekanzelt wird. Musil war wie Broch kein linker Intellektueller und kein Gesellschaftskritiker wie Bourdieu. In vielen Fragen ist Musil darin übrigens auch Freud, trotz aller stilisierten intellektuellen Gegnerschaft, durchaus verwandt: in seiner Geste der Unentschiedenheit, der Ambivalenz.

Fazit: Dieses viel zu lange Buch, dem man Reich-Ranickis Kürzungsprozedur wünschen möchte, versammelt Bekanntes, eröffnet aber auch neue Seitenblicke. Es markiert den Übergang von einer in die Jahre gekommenen Musil-Rezeption zu neuen Ufern. Dabei dürften viel eher Fragen der Kultur in den Mittelpunkt rücken als ein überkommenes soziales Paradigma. Es müsste mehr Platz für die Brüche und Mehrdeutigkeiten in Musils Werk bleiben, das theoretisch unerschöpflich zu sein scheint. ■